Wie erklärt man etwas, das nicht da ist?
Ich war in der Schule nie besonders gut in Mathe, sowohl mangels Interesse als auch mangels Begabung. Mein räumliches Vorstellungsvermögen ist nicht besonders gut, und spätestens als Anfang der zwölften Klasse Analytische Geometrie auf dem Lehrplan stand, beschloss ich es einfach aufzugeben. „Alle Geraden schneiden sich im Unendlichen,“ sagte mein Mathelehrer irgendwann, und ich fragte ihn: „Und woher wissen Sie das?“
Natürlich hatte er eine ausgezeichnete Erklärung dafür… und ich verstand nichts davon.
So ähnlich geht es vielen Leuten mit Asexualität.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass viele nicht aus böser Absicht abwertend oder anderweitig negativ darauf reagieren, wenn jemand sich als asexuell outet. Es ist schlicht und einfach Unverständnis, und objektiv betrachtet kann man ihnen das auch nicht verübeln – Asexualität ist, nach der derzeit gängigsten Definition, die Abwesenheit sexueller Anziehung und es ist verdammt schwer, die Abwesenheit von etwas zu erklären, noch dazu die Abwesenheit von etwas, das man nicht sehen kann.
Es ist schon schwer genug, sexuelle Anziehung zu erklären.
„Naja, ich steh halt auf den.“ – „Die ist total heiß“ – Mhm, okay, und das heißt jetzt konkret? Entgegen anders lautender Vorurteile wollen nicht-asexuelle Menschen nämlich nicht notgedrungen mit allen ins Bett gehen, die sie heiß, scharf oder sexy finden. Und oft können sie auch nicht erklären, warum genau sie eine bestimmte Person so ungeheuer (sexuell) anziehend finden.
Wie soll man da erklären, wie es ist, keine sexuelle Anziehung für gar niemanden zu spüren? Für viele Leute ist das genauso unvorstellbar wie für mich damals der Schnitt der Geraden im Unendlichen.
Ich habe festgestellt, dass man sich in vielen Fällen am besten über möglichst einfache Analogien mit vertrauten Elementen annähert. Und da ich mich persönlich sehr gerne mit Essen beschäftige, und Essensbeispiele den allermeisten Leuten zugänglich sind, kam ich irgendwann auf Austern.
Austern sind eine Familie von Muscheln mit einer besonders harten und scharfkantigen Schale, die hauptsächlich in Küstengewässern vorkommen. Die Arten, die für Menschen genießbar sind, gelten als außergewöhnlich nahrhaft, als Delikatesse und nicht zuletzt in vielen Gegenden als Aphrodisiakum. In Europa werden sie gerne roh gegessen, und da man sich beim Verzehr von rohen Muscheln üble Vergiftungen zuziehen kann, sollte man darauf achten, dass die Schale fest geschlossen ist und sich der Rand bei Berührung oder Beträufeln mit Zitrone zurückzieht – kurzum, darauf, dass die Auster noch lebt.
Ich persönlich finde die Vorstellung, ein Tier zu essen, das noch lebt – und zuckt! – ziemlich unappetittlich. Ich habe kein Problem damit, dass andere Leute Austern essen, ich finde es nicht unmoralisch oder verwerflich, aber ich verzichte gerne. Und genauso geht es mir mit Sex. Thanks, but no thanks.
Dass es Leute gibt, die nicht auf den Verzehr von rohen Muscheln stehen, leuchtet den meisten Menschen ein. Wenn man dann den Vergleich zu Asexualität zieht, geht manchen ein Licht auf.
Und wenn nicht?
Gegenfrage: Würdest du mit jemandem schlafen, den du sexuell überhaupt nicht attraktiv findest? (Viele Leute sehen bei dieser Frage eine bestimmte Person vor Augen… und die meisten verneinen.)
Mein Mathelehrer sagte damals übrigens zu mir: „Wenn Sie sich das nicht vorstellen können, müssen Sie es mir einfach glauben.“ Das ist doch eigentlich ein ziemlich guter Rat. Liebe Leute, wenn ihr euch nicht vorstellen könnt, dass wir keine sexuelle Anziehung empfinden – dann glaubt uns doch einfach. Wir wissen schon, wovon wir reden.
Zwei einigermaßen taugliche Analoga. Am Ende muss ich nicht alles verstehen, was meine Mitmenschen bezüglich Sex, Gender und all dem Krams fühlen – aber ich muss akzeptieren, dass sie so fühlen.
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Schöne, erfrischende Texte bis jetzt – mögen noch viele weitere folgen!
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